Knochenhaus

[RIG]

Weil Hochgefühle bei mir immer von kurzer Dauer sind; Momentaufnahmen, die keiner nüchternen Betrachtung standhalten; fixe Ideen eines verwirrten Geistes, der bei genauerem Hinsehen nicht mein eigener sein kann.

Zum Glück bin ich weitgehend unabhängig von Hochgefühlen und anderen temporären Wallungen, weil ich zufrieden bin. Zufrieden damit, bei jeder Witterung gedankenlos durch die Grabreihen zu stapfen; zufrieden mit dem stetigen Zuwachs meiner Todesanzeigensammlung, zufrieden mit dem beschwerlichen Ausheben eines Kindergrabes, selbst wenn der Name Anna alte Wunden aufreisst und es sich vom ersten Spatenstich an so anfühlt, als würde ich meine kleine Tochter ein zweites Mal zu Grabe tragen.

Ich schüttel den Gedanken ab, verdränge die aus dem Nichts hervorbrechenden Bruchstücke meines anderen Lebens: Annas hellblonde Haare zum langen Zopf gebunden, mein Lehramt, die Schule damals, unser Haus und Edith, immer wieder Edith, beim Autofahren, am Schreibtisch, lachend, schimpfend in der Küche, verschlafen zwischen schweissnassen Laken, verzweifelt in der Stille ihres verschlossenen Zimmers, damals, nach Annas Tod.

[Borderline]

[sleeping pug]

Ich fing an, das Grab für die kleine Anna auszuheben. Als ich den Spaten in die Erde rammte, mußte ich daran denken, wie ich damals meine kleine Anna beerdigt hatte. Ich zog den Flachmann aus der Jackentasche und nahm einen kräftigen Schluck. Der Whisky brannte angenehm in meiner Kehle. Edith hatte Anna nur kurze Zeit überlebt. Nach Annas Tod hatte sie einfach aufgehört zu essen. Selbstmord auf Raten. Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Nichtmal dieser lächerliche Männerkochkurs half, aber daran hatte ich sowieso nicht geglaubt. Männerkochkurs, pah! Immerhin gab es noch eines, was ich für Edith tun konnte, wenige Monate nach Annas Tod hob ich Ediths Grab aus. Sie hatte ein schönes Grab. Südhang. Schön sonnig. Sie hatte den Sonnenschein geliebt.
Ich nahm einen weiteren Schluck aus dem Flachmann. Wenigstens auf die Wirkung des Alkohols war noch Verlass. Ich grub weiter. Die Arbeit war jetzt auszuhalten.

[carrion]

Inzwischen war es schon fast Mittag.
Wie doch die Zeit verflog, wenn man sich mit Wiedergängern, Drogen und alten, schmerzlichen Erinnerungen befasste. Die Sonne brannte mir unermüdlich auf den kahlen Schädel und nicht zum ersten mal in diesem Sommer nahm ich mir vor, mir endlich einen Hut zu kaufen. Als letzte Woche das mit der verdammten Hitze angefangen hatte, war ich mittags beim Ausheben des Grabes für die alte Misses Grey einfach zusammengeklappt. Sonnenstich. Nun gut, vielleicht haben auch die Flasche Vodka und die 2 oder 3 Guten-Morgen-Tüten ihren Teil zu der Geschichte beigetragen. In jedem Fall war es kein schönes Erwachen, als mich der Pastor mitsamt Sargträgern und einigen Angehörigen zusammen mit den letzten Vodkaresten im halbfertigen Grabloch fand.

[RIG]

Und als Mrs. Grey dann noch Anstalten machte, direkt nach der Beisetzung die ihr zugewiesene letzte Ruhestätte promt wieder zu verlassen, war es um die Selbstbeherrschung der Trauergemeinde endgültig geschehen. Die meisten rannten mit weit aufgerissenen Augen und zu Berge stehendem Haar um ihr Leben. Der Rest verharrte paralysiert neben der Grube, während ich das unschickliche Wiedergänger-Problem wie üblich löste: Mit dem Spaten.

[Lost Boy]

Ich erledigte mit gezieletenSchlägen, oder das, was meine immer noch getrübten Sinne in dieser Situation zuliessen, einen nach dem anderen. Ich hatte noch was vor. Ich wollte zu Ihr. Ich mußte sie sehen. Die anderen waren schreiend weggelaufen. Ich konnte in aller Ruhe, aber ohne Stoff, weitergraben.
Es war deutlich kühler geworden, die Sonne stand tiefer am Himmel. Wie lange ich da wohl gelegen hatte?
Es drehte swich alles.Mir war schwindelig und ich mußte mich übergeben.
Was trinken wäre jetzt gut,dachte ich und ging in Richtung Haus.

[Dead Man]

Wieder an meinem Schreibtisch blätterte ich gedankenverlohren in meinem Album. Wieso sind es immer die selben Leute, die keine Ruhe finden? Die meisten, die ich unter die Erde brachte haben keinen Versuch mehr unternommen, wieder aufzustehen. So, wie es ja eigentlich auch sein sollte. Und dann sind da diese anderen - meistens alte Menschen - alle aus diesem Dorf...

Fred, der Totengräber von der Nachbargemeinde kennt solche Probleme scheinbar nicht. Als ich ihn letztens auf dem Jahrmarkt bei einem Bier beiläufig fragte, ob sich auf seinem Friedhof schon mal etwas Ungewöhnliches ereignet hat, meinte er "Ja, ein paar Jugendliche scheinen Gefallen daran zu finden, es auf den Gräbern miteinander zu treiben.". Ich hab dann darauf geantwortet "Genau das meine ich." und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.

Irgendetwas muss also in diesem Dorf mit manchen Menschen passieren. Sind sie vielleicht gemeinsam zur Schule gegangen, oder haben sie den gleichen Hausarzt? Ich glaube, ich habe ein neues Hobby...